Prof. Dr. Manfried Rauchensteiner

Die letzten Tage der Menschheit und das Werden der Republik

Karl Kraus wird dieser Tage wohl öfter zitiert werden. Vielleicht nicht, weil das, was er geschrieben hat, so gut in die Zeit passt, sonder deshalb, da es so überhaupt nicht in die Zeit zu passen scheint. Bitterer, ätzender Humor ist es, der in jene hundert „Szenen und Höllen“ der „Letzten Tage der Menschheit“ führt, die Kraus für sein Drama bemühte. Dabei ist sein Drama ein Torso geblieben, denn der Epilog zu den „letzten Tagen“ wurde schon im Sommer 1917 geschrieben.
Erwarten Sie nun nicht, dass ich einen Nachtrag oder gar eine Nachdichtung liefere, und erst recht nicht, dass ich den Wortgewaltigen imitiere, doch bei manchem, das in die Zeit nach der Fertigstellung seiner Tragödie im Sommer 1917 gefallen ist, mag man bedauern, dass es Kraus nicht mehr verarbeitet hat. Denn vieles scheint ebenso unwirklich, wenngleich Wort für Wort belegbar, wie jede einzelne Szene, die der Geschichte vom Zerfall der Realutopie Österreich-Ungarn zugrundeliegt. Und man könnte die Fortsetzung der „letzten Tage“ wie Karl Kraus beginnen: „Extraausgabee…“ „Das Ende des Krieges. Waffenstillstand nach einer Kriegsdauer von einundfünfzig Monaten und sechs Tagen….Niederlegung des Oberbefehls über die Armee durch den Kaiser….. …“…“Einmarsch der deutschen Armee in Tirol und Salzburg. Besetzung von Innsbruck und Kufstein“.
Jedes der zitierten Worte ist authentisch. Der Einmarsch deutscher Truppen nach Salzburg und Tirol wurde heute vor 90 Jahren gemeldet. Einige erlebten es; die Zeitungen berichteten darüber. Und alles schien sich nahtlos an Karl Kraus’ Drama über das Ende der Geborgenheit anzuschließen. Was er schilderte, war der klassische Fall von Beschleunigung in der Zeit, wie sie dann Reinhart Koselleck beschrieben hat.
Mittlerweile sind die einzelnen Ebenen der Handlung des 1. Weltkriegs und die Details des Geschehens schon längst entflochten und dechiffriert worden. Die weltgeschichtliche Dimension hat ebenso ihre Interpreten gefunden wie die strukturgeschichtliche Analyse. Die interdisziplinäre Forschung und analogische Aspekte, wie sie aus den Vergleichsstudien zum Erstem und Zweiten Weltkrieg hervorgehen, sind ebenso wichtig geworden, wie sich gerade jüngst in Österreich wieder eine Art Grundsatzkritik am Werdegang des Landes und seinen  demokratischen Strukturen zu artikulieren begonnen hat. Nicht ganz neu, würde ich sagen, und wenn man dem dann die personenbezogene historische Kritik anschließt, so wie sie beispielsweise schon vor Jahrzehnten Rudolf Neck im Fall Karl Renners hat laut werden lassen, sieht man recht schnell, dass es eigentlich keines besonderen Anlassfalls bedarf, um sich mit Zäsuren in der Geschichte, dem Krieg der Jahre 1914 – 1918, den Umbrüchen oder „Rückbrüchen“ in der Diktion Friedrich Heers zu beschäftigen: Die Themen sind  - wenn schon nicht alltäglich – so vorgegeben.
Seit 1918 wohnt dem Urteil über das historische Geschehen, das als „Ende der Habsburgermonarchie“, „Zerfall der europäischen Mitte“, „Katastrophe“ oder wie auch immer bezeichnet worden ist, sowie dem Beginn der österreichischen Nachkriegszeit anderseits etwas Dialektisches inne. Der Bericht über das Ende eines der europäischen Großreiche bekommt sehr rasch einen sentimentalen Unterton, sogar dann, wenn im Zusammenhang mit der Neukonstruktion einer europäischen Gegenwart das Reich der Habsburger eher beiläufig anklingt. Auf der anderen Seite kann und will wohl eine zentraleuropäische Staatenwelt gerade diese sentimentalische Herangehensweise nicht zu sehr pflegen, da ja sonst sehr rasch identitätskritische Sichtweisen Platz greifen würden und zumindest in der politischen Sphäre sofort der Vorwurf des Realitätsverlustes erhoben werden könnte. Die Darstellung der Zeit nach dem Krieg ist aber sicher bar jeglicher Sentimentalität. Emotionslos kann aber wohl keine Analyse der Jahre 1918 und 1919 ausfallen.
Man könnte nun genauso an den Beginn einer Darstellung über Ende und Anfang die von Alexander Demandt auf so hohem intellektuellen Niveau gepflegte kontrafaktische Geschichte stellen und sich fragen: Was wäre gewesen, wenn die Habsburgermonarchie nicht zerfallen wäre? Auch das würde Strukturierungen zur Folge haben. Würde es Österreich-Ungarn in irgendeiner Form noch immer geben? Hätte der Zweite Weltkrieg nicht stattgefunden? Wäre alles seither Geschehene ungeschehene Geschichte?- Die Antworten darauf darf ich Ihnen als Hausaufgabe mitgeben. Hier und jetzt werden wir notgedrungen auf dem Boden der Realität bleiben müssen und einmal die Eckpunkte des Geschehens festzuhalten haben.

Noch im Jahr 1917 waren wohl innerhalb und außerhalb Österreich-Ungarns die meisten davon überzeugt, dass die Habsburgermonarchie  Bestand haben würde. Nicht ungeschmälert, schließlich hatten beispielsweise die Alliierten Italien im Londoner Vertrag schon große territoriale Versprechungen gemacht. Nicht ohne Reichsreform, aber – und das war ein sehr wesentlicher Punkt – auch nicht unter der Voraussetzung einer weiterhin bestehenden engen Bindung Österreichs an das Deutsche Reich. Die Wende kam im Augenblick des größten militärischen Erfolgs der k.u.k. Armee an der Jahreswende 1917 und am Beginn des Jahres 1918, also in dem Augenblick, als Österreich-Ungarn dank des deutschen militärischen Potentials einem Siegfrieden zuzusteuern schien.
Dann wurde die Habsburgermonarchie im Abstand von Tagen und Wochen von der Wirklichkeit eingeholt. Da war einmal die Kriegserklärung der USA an Österreich-Ungarn. Rund einen Monat später und als Reaktion auf die Friedensvertragsverhandlungen in Brest Litowsk kam dann die gefeierte wie scharf kritisierte Kongressrede des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 mit den 14 Punkten. Für die Habsburgermonarchie schien primär Punkt 10 von Bedeutung: „Den Völkern Österreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen wir geschützt und gesichert zu sehen wünschen, sollte die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung zugestanden werden“. Damit war die Selbstbestimmung ein besonderes Thema geworden, das von allen Kriegführenden aufgegriffen wurde. Die elf Nationalitäten der Habsburgermonarchie machten da keine Ausnahme. Drei Monate nach der Verlautbarung der 14 Punkte beging Kaiser Karl einen schweren und nie wieder gut zu machenden Fehler: Als bekannt wurde, dass er Frankreich und den alliierten Mächten angeboten hatte, in Verhand¬lungen über einen Sonderfrieden einzutreten und zu einem Verzichtfrieden bereit war, stellte er das angesichts der Reaktion im eigenen Land und in Deutschland nachträglich vehement in Abrede und verstrickte sich in der sogenannten Sixtus-Affäre im April 1918 derart in Widersprüche, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als entweder konsequent zu lügen oder abzudanken. Er hat ersteres getan. Zumindest aus nach¬träglicher Sicht wäre es wohl besser gewesen, die Bekanntgabe der Kontakte zu den Franzosen dazu zu nützen, um den Völkern des eigenen Reiches mitzuteilen, man habe den Frieden gewollt, man habe um ihn gekämpft, sei zu jeglicher Art von Verzicht bereit gewesen und würde sich weiterhin primär von den Interessen der Völker der Habsburgermonarchie geleitet sehen. Die deutschen Österreicher hät¬ten wohl Schwierigkeiten gehabt, dem zu folgen, doch für die zehn anderen Na¬tionalitäten wäre dies vielleicht die letzte Möglichkeit gewesen, sich mit ihrem Kaiser und König eines Sinns zu wissen und ihn bei seiner Politik zu unterstützen. Es kam jedoch ganz anders, und die Folge der Sixtus-Affäre war eine komplette Unterordnung unter die deutsche Politik.
Zu diesem Zeitpunkt konnte die k.u.k. Armee zur Kriegführung der Mittelmächte kaum mehr etwas beitragen. Sie litt nicht nur an Auszehrung und setzte Leiden mit Leistungen gleich, sondern hatte auch zunehmend mit Nationalitätenproblemen zu kämpfen. Nachdem es schon im Februar 1918 bei der k.u.k. Kriegsmarine zu einem Matrosenaufstand gekommen war, kam es im April und Mai 1918 auch beim Landheer zu Meutereien.
Dass die Monarchie am Ende war, wurde aber am ehesten bei der Lektüre der Wirtschaftsdaten ersichtlich. Seit Monaten wurde nur mehr gerechnet. Die Produktionsziffern der Rüstungsindustrie wiesen steil nach unten. Wo es ging, wurden Ersatzstoffe eingesetzt. Mitte Juni wurde die Mehlquote für die österreichische Reichshälfte der Habsburgermonarchie auf 82,5g täglich herabgesetzt. Was noch an Lebensmitteln eingespart werden konnte, sollte der Armee in Italien zugeführt werden, die zu ihrer – was man nicht wusste – letzten Offensive angetreten war.
Kaiser Karl und das k.u.k. Armeeoberkommando wollten den Beweis antreten, dass Österreich-Ungarn noch ein zuverlässiger Bundesgenosse war und imstande, dem einzigen verbliebenen Gegner der Habsburgermonarchie, Italien, abermals eine schwere Niederlage zuzufügen. Also begannen am 13. und 15. Juni drei k.u.k. Armeen von den Dolomiten bis zur Adria ihre letzte Offensive. Die Alliierten hatten keine Mühe, die anrennenden Truppen abzuwehren. Ab Ende Juni war Österreich-Ungarn als Gegner unwichtig geworden. Jetzt entfiel sogar die  Notwendigkeit, amerikanische Kontingente nach Italien zu bringen. Sie wurden daher nach Frankreich geschickt.
Angesichts der tristen Situation an der Front und im Hinterland versuchte Kaiser Karl am 14. September einen einseitigen Friedensschritt zu setzen. Die Alliierten reagierten nur mit der Feststellung, dass sich zuerst das Deutsche Reich ergeben müsse, dann könne man auf die Wünsche Österreich-Ungarns eingehen.
Am 16. Oktober erließ Kaiser Karl ein sogenanntes „Völkermanifest“, wonach Österreich-Ungarn als ein Bund freier Nationen fortbestehen sollte. Karl hätte noch gerne die Worte „unter meinem Szepter“ eingefügt, doch das wurde schließlich weggelassen, weil die Passage das ganze Manifest noch unsinniger hätte werden lassen, als es ohnedies war. Es wurde denn auch nur mehr als Signal zur Auflösung verstanden. Und die Truppen der Entente in Italien taten alles, um die Zersetzung zu fördern. Am 24. Oktober begann die italienische Armee gemeinsam mit britischen und französischen Truppen ihre letzte Offensive. An einen Gegenangriff war nicht mehr zu denken.  Nach zwei Tagen begann sich die Front aufzulösen.
Kaiser Karl fasste den Entschluss, um einen sofortigen Waffenstillstand zu bitten. Als das ruchbar wurde – und Karl wollte es bis zum letzten Augenblick vor dem deutschen Kaiser geheim halten – arrangierte der deutsche Botschafter in Wien „spontane“ Demonstrationen, die vor allem bei der Sozialdemokratie Zustimmung fanden. Der Dank dafür war das Versprechen, Berlin würde Anschlusswünschen jenes Gebildes, das sich Deutschösterreich zu nennen begonnen hatte, mit besonderer Sympathie begegnen.
Kaiser Karl wollte die Verantwortung für den Waffenstillstand nicht allein tragen. Doch er fand niemanden, der die Verantwortung mit ihm teilen wollte. Nicht zuletzt scheiterte der Kaiser mit seinen Bemühungen, die Sozialdemokratie ins Boot zu holen. Die von Karl Renner und Karl Seitz auf eine schon fast flehentliche Bitte des Kaisers gegebene Antwort, jene Faktoren, die den Krieg begonnen hatten, sollten ihn auch beenden, ließ sich allerdings leicht zurückweisen: Karl war es nun wirklich nicht gewesen, der den Krieg begonnen hatte. Wohl aber war er derjenige, der ihn nicht früher zu beenden gewusst hatte.
Man riet Karl zu allem möglichen. U.a. meinte der Kommandant der 6. Armee, Generaloberst Fürst Schönburg-Hartenstein, der Kaiser sollte sich persönlich in Südtirol an die Front stellen, um den Italienern den Weg zum Brenner zu verwehren. Doch mittlerweile hatten sich auch die deutsch-österreichischen Regimenter geweigert, länger an der Front stehen zu bleiben. Sie hatten genauso genug vom Krieg wie alle anderen. Die Idee des Fürsten fand keine Unterstützung.
Am 3. November 1918, um 15 Uhr, wurde das Waffenstillstandsdokument unterzeichnet. 24 Stunden später trat die Waffenruhe in Kraft. Über 300.000 Soldaten der k.u.k. Armee gerieten in Kriegsgefangenschaft. Österreich-Ungarn gehörte der Vergangenheit an.
Jetzt gilt es, einen Moment innezuhalten: Worauf waren Ende und Zerfall Österreich-Ungarns zurückzuführen? Auf die Unzeitgemäßheit des multinationalen Konstrukts? Auf die nicht gelungene Reichsreform und die innenpolitische Stagnation? Auf den Krieg? Die Zerstörungskraft von außen? Die handelnden Personen?
Alles scheint sich in eine Art Krisenmodell einzufügen, das den Schluss zulässt: Die Summe der Krisen war nicht bewältigbar. Doch dass der Krieg ein Katalysator und Beschleuniger war, scheint wohl auf der Hand zu liegen. Nur brachte er eben nicht die Lösung aller Probleme, und erst recht nicht die Erlösung, wie man das noch 1914 gemeint hatte.
Für die Völker des Reichs, die Ende Oktober 1918 den Weg in neue Staatlichkeiten gesucht haben, mochte es vielleicht zunächst den Anschein haben, dass es ihnen möglich sein würde, die Erbschaft aus Krieg- und Vorkriegszeit abzustreifen, doch keinem sollte es gelingen. Dabei würde Österreich nicht einmal besonders hervorzuheben sein, wäre da nicht ein Teil der Erbschaft gewesen, dessen Singularität mit zunehmender zeitlicher Distanz vom Geschehen 1918 immer auffälliger wurde, Österreich behielt das Reichsgedächtnis. Sofern das im Spätherbst 1918 überhaupt jemand bedachte, wurde es aber zunächst als Last gesehen.

Als am 21. Oktober 1918 in Wien die deutschen Abgeordneten des österreichischen Reichsrates zusammenkamen, um sich selbst darüber klar zu werden, was sein würde, wenn die Habsburgermonarchie tatsächlich zerfallen sollte, befürchteten sie zwar, dass der Frieden seinen Preis haben würde, und dass die meisten Nationalitäten den beiden bis dahin dominanten Völkern, den Deutschen der Habsburgermonarchie und den Ungarn, die Schuld am Krieg aber auch an den Fehlern anlasten würden, die unter den Regierungen der Kaiser Franz Joseph I. und Karl I. begangen worden waren. Folglich sollte ein möglichst radikaler Strich gezogen werden. Deutschösterreich deklarierte sich als Nachfolgestaat und wollte sich solcherart einer Verantwortung entziehen, die sicherlich höher war als beispielsweise die der Tschechen. Die Folge war natürlich Orientierungs- und Heimatlosigkeit, so wie sie der schon erwähnte Fürst Schönburg-Hartenstein artikulierte, der sich geradezu zwang, mit den neuen Realitäten klarzukommen.
 „Wer jetzt noch existieren will, muss in allen seinen Begriffen umlernen“, schrieb er an seine Frau. „Schon die Tatsache, dass es eigentlich der Kaiser selbst ist, der bis auf Weiteres, das heißt bis zur erhofften, erwarteten Neukonstruktion den Begriff von Österreich aufgelöst hat, ist schwer fassbar. Dass die Neuaufrichtung auf vollkommen demokratischer Grundlage geschehen soll, würde uns heute zwar nicht überraschen, aber leicht zu verdauen ist das nicht.
Ich habe jetzt eben den Bericht über die Konstituierung des deutsch-österr. Nationalrates gelesen, der den neuen Staat Deutschösterreich gegründet hat. Das sind wir, das ist unser zukünftiges Vaterland…… Wie steht es mit der Zugehörigkeit unseres zukünftigen Vaterlandes, wird es gelingen, die neuen „Staaten“ in ein annehmbares Verhältnis zueinander zu bringen, werden wir eine Monarchie zustande bringen? Mit diesen Czechen, mit unseren vielen Sozialdemokraten, mit den Ungarn usw.? Um nicht in den vollständigen Abgrund zu stürzen, muss ich meinen vollsten Optimismus zusammennehmen und hoffen und glauben, ja es wird geschehen. Ich muss schreien, ja es muss geschehen“.
Aus dieser „Geworfenheit“, die ja keine Einzelerscheinung, sondern ein Massenphänomen war, resultierte dann eine gesteigerte Aktivität. Dass die Massen auf die Straßen zogen, dass schließlich bei der Ausrufung der Republik in der Umgebung des Parlaments rund 100.000 Menschen waren, spiegelte die Bereitschaft zur aktiven Mitgestaltung wider. Und da konnte es nicht ausbleiben, dass Meinungen und Interessen aufeinander prallten. Denn jetzt ging es gleichermaßen um Vergangenheit wie Zukunft. Mit der Durchsetzung der eigenen Vorstellungen von einem funktionierenden und idealen Staatswesen sollte dem Krieg, den man für ganz andere Ziele geführt und den man durchlitten hatte, nachträglich ein Sinn gegeben werden. Es war wie die Vorwegnahme von Viktor Frankl’s Sinnfrage. Und die Bereitschaft, die neuen Ziele notfalls auch gewaltsam erreichen zu wollen, war mit Händen zu greifen. Die „radikale Wertlosigkeit“ des menschlichen Lebens“ (Frankl) sollte denn auch gerade der sogenannten Kriegsgeneration immanent bleiben.

Am Anfang des neuen österreichischen Staatswesens stand aber in recht auffälliger Weise der Irrtum. Man hatte das Kriegsende nicht für den November 1918, sondern für das Frühjahr 1919 erwartet. Kaiser Karl hatte sich erhofft, dass Österreich-Ungarn irgendeine Art von Gemeinsamkeit, am besten in Form eines Staatenbundes, beibehalten würde – er irrte. Die deutschen Abgeordneten des österreichischen Reichsrats befürchteten das totale Chaos im Augenblick des Auseinanderbrechens des alten Staatswesens und suchten nacheinander bei der k.u. k. Armeeführung, bei der Entente und vor allem bei der deutschen Reichsführung Rat. Alle erklärten sich für nicht zuständig. Der nächste und fundamentalste Irrtum war wohl der, dass sich die deutschen Österreicher der Habsburgermonarchie der Illusion hingaben, ihr Staat würde so klein nicht sein und jedenfalls genügend Ressourcen besitzen, um sich zu einem geordneten Staatswesen auszuwachsen. – Auch das erwies sich als falsch.
Weitgehend einig war man sich darüber, dass Deutschösterreich (Südostdeutschland, wie es gelegentlich auch genannt wurde; Ostsass, Teutheim, Friedland – Gerald Stourzh hat die aus einem Preisausschreiben resultierenden Namensvorschläge für das noch Unbekannt festgehalten),  - dass Deutschösterreich also eine demokratische Republik werden sollte. Voraussetzung dafür sollte sein, dass es in Deutschösterreich eine bürgerliche Ordnung und ein den westlichen Demokratien vergleichbares politisches System gab.
Zunächst ging es daher um die Person des Kaisers. Kaiser Karl kämpfte um den Erhalt der Macht, doch er hatte keine Machtmittel mehr. Noch ließ er sich aber nicht einfach ignorieren. Also musste der Kaiser als politischer Faktor ausgeschalten werden. Schließlich willigte Karl am 11. November ein, einen begrenzten Verzicht auszusprechen. Zwei Tage später tat er das fast wortgleich im fall Ungarns.
Da fortan der Kaiser keine Macht mehr hatte, man der letzten kaiserlichen Regierung und dem Armeeoberkommando nur mehr die Liquidierung des Reiches und seiner bewaffneten Macht zugestehen wollte, war zu fragen, wer dem neuen Staatswesen Macht geben würde. Denn das Problem war wohl, dass Deutschösterreich nur dann eine Chance hatte, wenn es auch ein Minimum an staatlicher Gewalt besaß. Demgemäß wurde schon am 30. Oktober 1918 mit dem Aufbau einer neuen Armee, der Volkswehr, begonnen. Sie war aber eher eine soziale Einrichtung, als dass sie tatsächlich bei der Staatswerdung eine Rolle spielte. Und nach Außen war sie letztlich wirkungslos
Anfang November begannen slowenische Truppen aus dem neuen südslawischen Staat der Slowenen, Kroaten und Serben (SHS) damit, die südlichen und teilweise von Slowenen besiedelten Gebiete Kärntens sowie der Steiermark zu besetzen. Ein bewaffneter Konflikt begann, der aber zunächst nur von lokalen Bürgerwehren geführt wurde. Am 7. November begannen italienische Truppen mit dem Vormarsch nach Norden, überschritten den Brenner und besetzten schließlich Innsbruck. Salzburg war vom 6. bis 11. November von bayerischen Truppen besetzt. Wo die Grenzen im Norden und Osten verlaufen würden, war noch völlig ungewiss. Die Volkswehr konnte darauf jedenfalls keinen Einfluss nehmen. Doch zumindest aus Wiener Sicht dominierten die innenpolitischen Probleme ohnedies alles andere.
Es wurde randaliert und kam zu  Plünderungen. Gewalt griff um sich. Eine Rote Garde und die Radikalen unter den Unzufriedenen, Hungernden und Entwurzelten,  waren nur zu sehr bereit, Gewalt einzusetzen. Sie sahen sich vielleicht nur als Minorität der Deklassierten, wollten aber nicht einfach zusehen, wie sich da sehr ordentlich und bedächtig, immer auf die Verwaltungsabläufe bedacht, Rechtskontinuität wahrend und gewissermaßen legitim ein neuer Staat definierte. Jetzt, so glaubte eine Handvoll Sozialrevolutionäre, wäre der Augenblick gekommen, um wie in Russland Räte zu bilden und eine kommunistische Revolution auszulösen. Tatsächlich wusste man ja noch nicht, was das eigentlich für ein Staat sein würde. Auch der Begriff Volksrepublik kam vor. Immer wieder landete man beim Staatsnamen. Beide Teile des Wortes Deutschösterreich befriedigten nicht. Und als Befürchtungen laut wurden, die Siegermächte würden die Bezeichnung Österreich als Fingerzeig dafür nehmen, dass man diesem einzigen weiterbestehenden Österreich die ganze Kriegsschuld aufhalsen könnte - da war man mit dem Staatsnamen gar nicht mehr zufrieden. Dennoch wurde das Wort weiterverwendet, nicht zuletzt in der provisorischen Verfassung und im Gesetz vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform, in dem nicht nur festgelegt wurde, dass Deutschösterreich eine demokratische Republik sein sollte. Im § 2 hieß es: „Deutschösterreich ist ein Teil der Deutschen Republik“. 
Schon am Tag der Ausrufung der Republik, am 12. November 1918,  kam es zu gewaltsamen Zwischenfällen. Das Revolutionsgespenst nahm Gestalt an. Es fand nur deshalb noch geringe Nahrung, da die Zukunft des Landes trotz aller Hypotheken einigermaßen gesichert schien. Keinesfalls stand am Anfang die These von der Lebensunfähigkeit Österreichs. Man machte sich Hoffnungen, dass Deutschösterreich ein ansehnliches Staatsgebiet haben würde. Im Gesetz über Umfang und Grenzen des Staatsgebietes vom 22. November 1918 wurden schließlich jene Länder und Gebiete genannt, auf die sich die Gebietshoheit erstrecken sollte, und das waren unter anderem Deutsch-Südmähren, Deutsch-Südböhmen, Deutschböhmen und Sudetenland, wobei die deutschen Siedlungsgebiete von Brünn/Brno, Iglau/Jihlava und Olmütz/Olomouc als geschlossene deutsche Siedlungsgebiete reklamiert wurden. Der Rechtsbereich der Republik sollte sich darüber hinaus auf alle von Deutschen bewohnten oder verwalteten Sprachinseln, Städte und Gemeinden des alten Österreich erstrecken, also z.B. auch auf Deutsch Bielitz (Bielsko Biala) in Galizien - Aber die sehr einseitigen Akte, mit denen in Wien festgestellt wurde, was alles zu Deutschösterreich gehören und was schließlich auch in dem mit 225 Sitzen gedachten neuen Parlament Sitz und Stimme haben sollte, waren freilich mit den anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie nicht abgestimmt. Man lebte eine Utopie.
Auch in den führenden Wirtschaftskreisen Deutschösterreichs herrschte im November 1918 noch vorsichtiger Optimismus. Dieser gründete nicht zuletzt darauf, dass sich eine Art Konzentrationsregierung gebildet hatte und es den Anschein hatte, dass alle politischen Kräfte am Aufbau des neuen Staatswesens mitwirken wollten. Man sah das Land als nationalen Einheitsstaat, in dem man nicht mehr auf andere Nationalitäten Rücksicht nehmen musste. Dann wurde zusammengezählt, was dieser neue Staat alles haben würde – immer vorausgesetzt, es würde ihm alles das zufallen, was man anfänglich in Rechnung stellte: Leistungsfähige Industrien, Eisen, Holz, Wasserkraft und vor allem Kapital. Auch die böhmischen Industrien würden ihre Kredite vornehmlich von deutschösterreichischen Instituten beziehen müssen, glaubten die Konzernherren in Wien. Die Kriegsgewinne müssten investiert werden, und wenn das alles so lief, dann sei die Lebensfähigkeit eines auch kleinen Landes kein Thema. Wenn der Staat für die innere Ordnung sorgte, würde die Bevölkerung auch rasch Vertrauen zu ihm gewinnen.
Das war aber nur die Stimme der Wirtschaft. Für die Masse der Bevölkerung zählte offenbar anderes, und das waren vor allem Existenzsorgen und der Wunsch nach einem Halt in einer aus den Fugen geratenen Welt.
Die Alliierten hielten ihre kriegsbedingte Hungerblockade auch gegenüber der Republik Deutschösterreich aufrecht, und angesichts der Nahrungsmittelkatastrophe, zumindest aber –knappheit in vielen europäischen Staaten gab es kaum Hoffnung auf Importe.
Deutschland stornierte im November seine schon zugesagten Lieferungen. Angesichts des sich abzeichnenden Streits um die Zugehörigkeit von Südböhmen und -mähren waren die Tschechen nicht mehr bereit, Lebensmittel nach Deutschösterreich zu liefern. Eine Hoffnung gab es noch: Fünf Tage nach Abschluss des Waffenstillstands von der Villa Giusti hatte die Regierung der USA mitgeteilt, sie würde die „befreiten Völker Europas“ mit Nahrungsmitteln unterstützen. Der deutschösterreichische Staatssekretär für Äußeres, Otto Bauer, notifizierte daher den Amerikanern nicht nur die österreichische Neuschöpfung, sondern reflektierte auch auf das amerikanische Angebot. Präsident Wilson ließ in seiner Antwort mitteilen, die USA würden Österreich – im Gegensatz zu Deutschland - die Einfuhr von Nahrungsmitteln ermöglichen, allerdings nur gegen Bezahlung – und das war gegenüber dem Wort „unterstützen“  mehr als ein semantischer Unterschied. Doch die USA wollten sich zumindest nicht an die britisch-französische Doktrin halten und die Blockademaßnahmen auch über das Kriegsende aufrecht erhalten. Doch von Großzügigkeit war weiterhin nicht die Rede, und als schließlich die USA Deutschösterreich das Geld vorstreckten, mit dem Nahrungsmittellieferungen bezahlt werden sollten, musste Deutschösterreich im Gegenzug den USA wesentliche Staatseinnahmen verpfänden und schließlich im Juni 1919 der Transferierung der österreichischen Gold- und Devisenbestände nach Italien zustimmen.
Auch anderswo wurden Krisen deutlich. Österreichs Großbanken mussten ihre Beteiligungen abstoßen. Sie konnten gar nicht anders, da sie ihre Liquidität einzubüßen drohten. Gerade solche Aktionen waren aber Wasser auf die Mühlen derer, die Wirtschaftsfragen auch unter ideologischen Gesichtspunkten sahen. Und für die Sozialdemokratie war der Ausverkauf gleichzusetzen mit einem Verlust von Arbeitsplätzen und auch insofern klassenkämpferisch zu nützen, als der „Westen“ als imperialistisch und kapitalistisch bezeichnet werden konnte. Doch trotz eines zunehmenden verbalen Radikalismus versuchte die sozialdemokratische Parteiführung Deutschösterreichs immer wieder zu beruhigen. Denn bis zur Regelung der friedensvertraglichen Fragen war in jeder Weise Wohlverhalten angesagt. Es sollte möglichst keine Unruhen geben, da  es sonst gleich geheißen hätte: Österreich wird kommunistisch. Das war aber kein abstraktes Problem, sondern ein durchaus konkretes Projekt, trotz der im Februar 1919 abgehaltenen allgemeinen Wahlen, die durchaus als Absage an gewaltsame Veränderungen gewertet werden konnten, denn Sozialdemokraten und Christlichsoziale dominierten klar. Die Regierung wurde denn auch in Form einer großen Koalition von Sozialdemokraten und Christlichsozialen gebildet.
Und wieder, wie schon im November 1918, beschäftigte man sich zunächst vorrangig mit der Person des Kaisers. Kaiser Karl war im November nach Schloss Eckartsau bei Wien übersiedelt, und man war sich über seine Absichten im Unklaren. Doch da er keinen Thronverzicht ausgesprochen, sondern nur auf die politische Mitwirkung verzichtet hatte, musste eine Lösung gefunden werden.
Nach den Wahlen im Februar bereitete schließlich die deutschösterreichische Nationalversammlung ein Gesetz über die Landesverweisung der Habsburger vor. Karl  entschloss sich zur Emigration und wurde am 24. März 1919 mit einem Sonderzug in die Schweiz gebracht. Allerdings nahm er seinen Verzicht vom 11. November des Vorjahres vor dem Passieren der Landesgrenze zurück. Die Republik antwortete mit einer Landesverweisung für alle Habsburger, die sich nicht zur österreichischen Verfassung bekannten, sowie mit der Enteignung des habsburgischen Besitzes und der Abschaffung aller Adelstitel. Die Vorgangsweise war und ist alles andere als unumstritten, doch zweifellos wurde damit ein Problem radikal gelöst.
Zu dieser Entschlossenheit hatte wohl auch beigetragen, dass in Ungarn die Radikalen gesiegt hatten. Am 21. März 1919 übernahm in Budapest eine Räteregierung unter Béla Kun die Regierung. Das wurde auch in Österreich als Signal verstanden: Die Linke hoffte auf ein Übergreifen der Revolution; die große Mehrheit der Bevölkerung, vor allem im Westen des Landes, war geschockt. Der österreichische Staatssekretär für Äußeres, Otto Bauer, versuchte die Alliierten zu beruhigen: Auch in Österreich würde wohl über eine kommunistische Regierung gesprochen, doch es sei lediglich eine akademische Diskussion. Außerdem hinge die Entwicklung in Österreich nicht von Ungarn, sondern von Deutschland ab. Genau das war aber auch das Problem, denn am 5. April wurde auch in München eine Räterepublik proklamiert, für viele der Beginn einer bolschewistischen Revolution in Deutschland.
Die Möglichkeit eines Zusammengehens von Österreich und Ungarn brachte  bei den Siegermächten die Alarmglocken zum Schrillen. Außenminister Lord Balfour ließ in Wien ausrichten: Sollte das Land im Chaos versinken oder gar kommunistisch werden, würden die Lebensmittellieferungen sofort gestoppt werden. Die radikale Linke Deutschösterreichs bereitete dennoch für den17. April einen bewaffneten Aufstand vor, der zur Installierung einer Räteregierung führen sollte. Die ungarischen Kommunisten setzten alle Hoffnung in diese Aktion. Agitateure instrumentalisierten schließlich eine Versammlung von Heimkehrern und Arbeitslosen in Wien zum Sturm auf das Parlament. Teile der Volkswehr griffen auf  Seite der Kommunisten in die Kämpfe ein. Doch die Masse der Volkswehr blieb regierungstreu bzw. folgte sie den Appellen sozialdemokratischer Politiker. Ein allgemeiner Aufstand blieb aus. Die Aktion scheiterte.
Im Juni sollte es noch einmal kritisch werden. Abermals kamen Geld und Gewaltbereite aus Ungarn. Die ungarische Gesandtschaft spielte eine Schlüsselrolle. Der Wiener Polizeipräsident Johann Schober ließ jedoch am Vorabend der geplanten Aktion 122 kommunistische Funktionäre verhaften. Die Bewegung war führerlos, und der Sturm auf das Gefangenenhaus, in dem sie einsaßen, endete im Kugelhagel der Polizei. (Julius Endlweber hat die Szene in einem eindrucksvollen Bild festgehalten). Die radikale Linke hatte ein Debakel erlitten und spielte fortan keine Rolle mehr. Jetzt konnte man sich endlich wieder auf anderes als eine kommunistische Gefahr konzentrieren.
Da man sich als Nachfolgestaat und nicht als seinerzeit kriegführender Staat sah, wurde zunächst davon ausgegangen, dass die Alliierten mit Österreich einen Staatsvertrag und keinen Friedensvertrag abzuschließen hätten. (Wieder eine der Illusionen bzw. Irrungen, die den Weg der Republik begleiteten). Zunächst hatte man auch gedacht, dass sich alles mehr oder weniger schnell erledigen ließe, denn Deutschösterreich sollte ja – wie es im Staatsgrundgesetz hieß – Teil der Deutschen Republik werden. Wichtig würde daher nur sein, was im deutschen Friedensvertrag stand. Vor allem herrschte größte Unsicherheit darüber, was die Grenzen des Gebiets anlangte, das entweder als selbständiger Staat existieren oder dann Deutschland inkorporiert werden sollte. Dabei spielte die Frage nach einem Anschluss an Deutschland für die Befürworter der Unabhängigkeit wie für jene, die einer Eingliederung das Wort redeten, eine durchaus unterschiedliche Rolle: Sollte  Deutschösterreich bestehen bleiben, war buchstäblich um jeden Quadratkilometer zu ringen; sollte es in Deutschland aufgehen, war es wohl nicht so wichtig, ob Randgebiete dabei waren oder nicht. Das hatte denn auch zur Folge, dass sich die territorialen Fragen von der Ebene des Staates auf die der Länder verlagerte, denn die Bundesländer sahen sich (zurecht) als gewachsene historische Einheiten. Sie waren früher gewesen als der Staat; sie waren teilweise älter als die Herrschaft der Habsburger im Alpenraum. Daher kämpfte man auch in den Ländern zäh und verbissen um die historischen Einheiten und stellte fallweise sogar die Zugehörigkeit zu Deutschösterreich in Frage.
Österreich demonstrierte Wohlverhalten. Alles, was die Alliierten oder auch nur die Nachbarn nennenswert reizen konnte, wurde unterlassen. Doch auch wenn es dafür verbales Lob gab, war mehr als fraglich, ob das die Alliierten bei den im Schloss von Saint-Germain-en-Laye bei Paris anberaumten Verhandlungen über einen Friedensvertrag in Rechnung stellen würden.
In Wien wartete man monatelang auf eine Einladung nach Paris. Trotz intensiver Vorbereitungen war man sich aber noch über ganz wesentliche Punkte im Unklaren. Vor allem wusste man nicht, ob der Anschluss an Deutschland noch zu verhandeln war. Das innenpolitische Klima verschärfte sich. Die Christlichsozialen wandten sich strikt dagegen, dass der Staatssekretär für Äußeres, Otto Bauer, österreichischer Delegationsleiter sein sollte, so wie das Brockdorff-Rantzau im Fall Deutschlands war. Denn Bauer sei ein so kompromissloser Befürworter des Anschlusses und obendrein Sympathisant des ungarischen Rätesystems, dass er mit seiner Haltung eher provozieren als Kompromissbereitschaft signalisieren würde. Er galt zudem als strikt antifranzösisch. Somit war er ungeeignet, Österreich in Saint-Germain zu vertreten. Da sich kein vergleichbarerer Spitzenrepräsentant fand, wurde schließlich Staatskanzler Renner Delegationsleiter. Eine sicherlich gute und sinnvolle Wahl, denn es war zu hoffen, dass Renner auch auf der Ebene der Regierungschefs Gehör finden würde und nicht nur auf Ministerebene.
Mitte Mai 1919 kam die österreichische Delegation nach Paris. Sie wurden in Saint-Germain interniert. Und dann wurde mitgeteilt, dass die Österreicher nur als Auskunftspersonen geladen waren. Auch der Status Österreichs wurde ohne Umschweife zur Kenntnis gebracht: Österreich würde als Kriegführender betrachtet und hätte daher volle Verantwortung für den Krieg und seine Folgen zu tragen. Die Frage der Rechtskontinuität, die von der Habsburgermonarchie auf Österreich übergegangen wäre, war von den Alliierten zwar diskutiert worden, und Präsident Wilson war ebenso wie der britische Premier Lloyd George dagegen gewesen, Deutschösterreich als Rechtsnachfolger zu sehen. Doch letztlich wogen die Interessen Frankreichs, Italiens und der neuen Verbündeten, vor allem der Tschechen schwerer. Die Deutschen in Österreich wären immer Träger des Staatsgedankens gewesen, hieß es. Daher müssten sie nun auch für den Krieg einstehen. Und was das Territorium anlangte, so hieß es recht einfach: Die Habsburgermonarchie sei 1526 aus einem Kern von Ländern entstanden, auf die Österreich jetzt wieder reduziert werde. Den Alliierten machten denn auch die territorialen Fragen am wenigsten Kopfzerbrechen.
Südtirol, das von Italien restlos bis zum Brenner gefordert wurde, wurde von den Verbündeten nicht in Frage gestellt. Die Alliierten wollten aber auch keine Debatten über die Nordgrenze. Die Kärntner Frage und die Grenzziehung der Steiermark drohten vollends in Streit und Krieg zu münden. Nach der Besetzung von Teilen des Klagenfurter Beckens durch südslawische Truppen schien eine Vorentscheidung gefallen zu sein. Doch auch in diesem Fall hieß es: Die Grenzen werden in Paris gezogen. Da sich das südslawische Königreich damit nicht zufrieden geben wollte, nahmen die Alliierten eine etwas drohendere Haltung ein und erklärten, es wäre noch nicht ausgemacht, dass nicht auch Kroatien und Slowenien Feindesland seien und dementsprechend behandelt würden. Die Italiener demonstrierten das sogar. Doch für sie ging es natürlich um Fiume, den Quarnero und Dalmatien. In Österreich hatte man dennoch zu registrieren, dass sich Italien vom „Erbfeind“ zum einzigen europäischen Partner entwickelte. Für das strittige Gebiet Kärntens wurde schließlich in Saint-Germain eine Volksabstimmung anberaumt, die am 10. Oktober 1920 ein klares Votum für den Verbleib bei Österreich ergab.
Ähnlich wurde im Fall Deutschwestungarns verfahren, das als Burgenland zu Österreich geschlagen werden sollte. Nur für die Hauptstadt des Komitats Ödenburg (Sopron) wurde schließlich eine Volksabstimmung gefordert, die im Dezember 1921 durchgeführt wurde. Sopron blieb bei Ungarn.
Doch das waren nur einige der Hauptfragen, die mit dem Friedensvertrag geregelt werden sollten. Viele Vertragsteile waren schon fertig gewesen, als die deutschösterreichische Delegation nach Saint-Germain kam. Dabei hatten sich ganze Partien aus den Statuten für den Völkerbund übernehmen lassen, anderes, vor allem auch für die Einleitung, fanden sich bereits im Friedensvertrag von Versailles. Die Kriegsschuld wurde – wie im Fall Deutschlands - uneingeschränkt bei Österreich gesehen und stellte die Grundlage dafür dar, dass dem besiegten Österreich Lasten auferlegt werden konnten. Es sollte Reparationen zahlen. Die Höhe war noch nicht festgelegt worden. Doch es ging auch noch um weiterreichende finanzielle Fragen. Es ging um Auslandsinvestitionen und Schulden. Vor allem britische Wirtschaftsfachleute waren sich darin einig, dass es ein Unding sei, die für Deutschland entwickelten Bestimmungen auch auf Österreich anzuwenden. Im Fall Deutschlands würde man die Wirtschaftsentwicklung hemmen wollen, im österreichischen Fall müsse man sie aber fördern. Mehrere Memoranden von Sir Francis Oppenheimer über die katastrophale finanzielle und wirtschaftliche Situation Österreichs bewirkten schließlich eine Änderung. Schließlich sollte ein Nationalitätenschlüssel angewendet werden, wodurch dann jeder Nachfolgestaat einen verhältnismäßigen Anteil an den Schulden der Habsburgermonarchie zu übernehmen hatte. Wieder war ein Vertragsteil fertig geworden.
Im Abstand von Wochen bzw. Monaten wurden Österreich alle weiteren Bestimmungen übergeben. Ein wesentlicher Punkt des Vertrags war aber bis zum Sommer noch nicht angesprochen worden, nämlich die Frage eines Anschlusses Österreichs an Deutschland.
Das Anschlußverbot war zunächst nur von Frankreich wirklich gewünscht worden, um einen möglichen Gebietszuwachs Deutschlands zu verhindern. Die USA, Großbritannien und Italien waren eher für den Anschluss gewesen, zumindest war er ihnen gleichgültig. Doch im März 1919, als in Versailles die Grenzen Deutschlands festgelegt wurden, wurde auch eine Grenze im Südosten gezogen, die verhindern sollte, dass sich Deutschland vergrößerte. Das folglich im Umweg über Deutschland unabhängig gedachte Österreich, das zu einer Art Funktion des Deutschlandsvertrags wurde, sollte neutral werden, und damit es dabei blieb, sollte der Völkerbund den französischen Vorstellungen folgend, eine Garantie aussprechen. Schon wenig später zeigte Frankreich aber kein Interesse mehr an einem neutralen Österreich. Die österreichische Delegation wurde allerdings erst mit dem dritten Entwurf des Friedensvertrags offiziell vom Verbot eines Anschlusses an Deutschland informiert.
Doch wenn bis dahin jemand getan hatte, als ob es ihn unvorbereitet träfe und er nichts davon gewusst habe, dann war ihm wohl entgangen, dass die entsprechenden Passagen sich als Artikel 80 im Friedensvertrag von Versailles fanden und seit Juni 1919 nachzulesen waren. Dort stand denn auch unmissverständlich, dass sich Deutschland verpflichtete, die österreichische Unabhängigkeit zu wahren. (1920 sollte das Gebot zur Unabhängigkeit Österreichs auch in den ungarischen Friedensvertrag von Trianon geschrieben werden).
Daher wurde dem Staat, der künftig Österreich (und nicht mehr Deutschösterreich) heißen sollte, das Verbot eines Anschlusses an Deutschland auch als Artikel 88 in den Friedensvertrag geschrieben.
Am 10. September 1919 unterzeichnete Renner in Saint-Germain das Vertragswerk. Die Streichung des Anschlussartikels aus der Verfassung am 21. Oktober 1919 ging mit emotionalen Ausbrüchen einher. Die Frage der Lebensfähigkeit wurde damit beantwortet, dass es apodiktisch hieß, Österreich sei ein Staat, den keiner wollte und dem man alle Lebenschancen genommen hätte. Die These von der Lebensunfähigkeit wurde immer mehr Teil der „Ablehnungspsychose“ und Teil der Legende vom Zwangsstaat. Allerdings zweifelten jetzt auch jene, die ursprünglich ein rosiges Bild gezeichnet hatten, am Fortbestand des neuen Staatswesens.
Letztlich war Österreich auch nicht bereit, die Bestimmungen des Friedensvertrags als bindend anzusehen, ebenso wenig wie das Deutschland, Ungarn oder auch Italien taten; von Polen, Bulgarien oder der Türkei zu schweigen. Gefühle von Demütigung, Ohnmacht, Ungerechtigkeit und Revanche überlagerten die Bestimmungen und ließen ihre Umsetzung zur Zwangsmaßnahme werden.- Was folgte, war eine erzwungene Rückkehr zur Realität, zum „Modell Schützengraben“, wie Ernst Hanisch den Übergang zum latenten Bürgerkrieg der Zwischenkriegszeit nannte, oder aber man nahm Zuflucht zu Amnesien.
Tatsächlich wurden kollektive und einzelne Schutzmaßnahmen wirksam. Das konnte bis zur Realitätsverweigerung gehen, wie sich am Beispiel des in den Zwanzigerjahren in einem Innsbrucker Hotelzimmer lebenden Feldmarschalls Conrad von Hötzendorf zeigen lässt. Conrad wollte nichts mehr von Politik wissen, und las auch keine Zeitungen mehr. Aber natürlich gab es auch andere Formen des Verdrängens. Um sie zu beschreiben, wird man freilich nicht zu Karl Kraus greifen können. Aber vielleicht tut es auch ein gewesener Habsburger.
In den Dreißiger Jahren verfasste der ehemalige Erzherzog Ferdinand Leopold Salvator autobiographischen Aufzeichnungen. Darin beschrieb der gewesene Erzherzog, nunmehr Leopold Wölfling, wie er zu einem nicht genannten Datum im  Wien der Nachkriegszeit eine verarmte ehemalige Baronesse traf. Er fragt nach ihrem Vater,  und meint „Ich würde ihn gern begrüßen“. Darauf die junge Frau: „Nein! Nein! Er soll nicht mit Ihnen sprechen“. Leopold Wölfling insistierte, und plötzlich brach es aus der Frau heraus: „Er weiß nicht und soll nichts davon wissen, was in den letzten Jahren der Monarchie und nach der Revolution geschehen ist…. Er weiß nicht, dass es schon lange keinen Kaiser mehr gibt“. Die Tochter hatte ihm den Untergang der Monarchie verheimlicht, weil ihr Vater diesen Schlag – wie sie meinte – „nicht überlebt haben würde“.
Ich frage mich aber: Ist der alte Herr nicht eigentlich zeitlos, ein typischer Österreicher? Manchmal kann man doch das Gefühl haben, dass die Monarchie noch immer andauert. Ich habe vorhin das „Reichsgedächtnis“ genannt. In Wien lauert es an allen Ecken und Enden. Es überfällt einen geradezu. Es gibt neue Formen der Reichsteilung und des „Ausgleichs“. Die große Koalition Österreich-Ungarns ist einer kleinen von zwei Parteien gewichen. Bücher über die Habsburger sind noch immer bestsellerverdächtig und auch Fernsehklamauk kommt offenbar nicht ohne imperialen touch aus. Tatsächlich ist die Aussöhnung mit der Welt von Gestern, wie sie Stephan Zweig genannt hat, schon längst erfolgt. Der Sohn des letzten Kaisers, Otto, besucht den österreichischen Bundespräsidenten, geht durch die Räume der Hofburg und meint lächelnd „Schön haben Sie’s da“. -  90 Jahre glätten eben manches und lassen es in die Geschichte zurücksinken.